Am 29. November 2022 erhielten wir eine WhatsApp-Nachricht mit mehreren Bildern des stillgelegten Bahnhofs in Lungitz als möglichen Austragungsort. Die meisten Aufnahmen zeigten, was man erwarten würde: leere Räume, die hier und da mit Spuren der Vergangenheit gefüllt waren. Auf einem der Bilder waren etwa 20 mit Steinen gefüllte Säcke zu sehen, die in die Ecke eines kleinen Raumes geschoben worden waren. Man erklärte uns, dass es sich dabei um Aushub von Ausgrabungen entlang der Bahnlinie handelt. Dabei wurden menschliche Überreste gefunden, die möglicherweise aus dem Zweiten Weltkrieg stammen.
Im Jahr 2018 holte diese verborgene Vergangenheit die Gegenwart ein, als unter den Gleisen des Bahnhofs Lungitz ein Skelett gefunden wurde. Der Fund wurde in das frühe Mittelalter datiert, bei der Ausgrabung kam jedoch auch eine Ascheschicht zum Vorschein. Aufgrund der Nähe der Bahnlinie zu den Konzentrationslagern Mauthausen und Gusen ging man davon aus, dass die Überreste aus einem der Vernichtungslager stammten. Daraufhin wurden die Sanierungsarbeiten gestoppt und ein Team aus Archäolog*innen stellte schließlich fest, dass die Asche in ihrer chemischen Zusammensetzung mit der Asche aus den nahe gelegenen Krematorien des Konzentrationslagers Mauthausen identisch war. Die Asche wurde daraufhin von den Verbrennungsrückständen (Schlacke) getrennt und in einem Grab neben dem Gedenkstein des KZ Gusen III beigesetzt.
Beim Sichten und Trennen der Asche blieb eine große Menge Schlacke zurück. Ein Teil davon wurde abtransportiert, ein anderer Teil wurde, wie wir über die WhatsApp-Nachricht erfahren haben, in einem Raum des Bahnhofgebäudes in Lungitz zurückgelassen. Die Rückstände wurden als aus wissenschaftlicher Sicht irrelevant eingestuft, da sie keine Spuren menschlicher Überreste aufwiesen. Die Schlacke wurde dennoch sorgfältig in Säcke verpackt und mit Etiketten versehen, aus Respekt und um ihre politische Sensibilität deutlich zu machen. Mit dieser Entdeckung haben sich der Ort, das Gebäude und seine Bedeutung völlig verändert. Bis dahin konzentrierten sich unsere Diskussionen darauf, Erinnerung als etwas wahrzunehmen, das dynamisch ist, ständig aus neuen Blickwinkeln betrachtet werden muss und das man immerzu weitergeben soll, um es vor dem Vergessen zu bewahren.
Die Entdeckung dieser historisch bedeutsamen Überreste macht den Bahnhof Lungitz auch zu einem Ort des Traumas. Was macht man mit einem Artefakt von solch extremer Gewalt? Versucht man es zu transformieren, zu versetzen oder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken? 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war der Bahnhof zufällig zu einem Mahnmal für das KZ Gusen III geworden, doch seine Monumentalität war den Blicken lange verborgen geblieben.
Um zu untersuchen, wie verschiedene Aspekte von Zeit, Identität und Geschichte miteinander in Bezug stehen, haben wir eine Gruppe von Künstler*innen und Historiker*innen mit verschiedensten Hintergründen zusammengebracht. In kollektiver Arbeit suchten wir nach neuen Formen des öffentlichen Engagements an diesem Ort. In diesem Kontext wurden Giveaways in Auftrag gegeben und als Strategie eingesetzt, um eine gemeinschaftliche Verantwortung für das Teilen von Erinnerungen zu schaffen und aktiv an der fortlaufenden Erzählung teilzunehmen.
Konzept: Antoine Turillon, Seth Weiner
Beteiligte Künstler*innen: Brishty Alam, Abdul Sharif Oluwafemi Baruwa, Flo Karl Berger, Marc Alexandre Dumoulin, Baptiste El Baz, Julia S. Goodman, Edgar Lessig, Morusiewicz / Maggessi, Stephanie Misa, Johanna Tinzl, Antoine Turillon, Rosabel Rosalind, Anna Weberberger, Seth Weiner
Dank an: Andrea Wahl, Andreas Haider, Annalise Podor, Felix Vierlinger, Fina Esslinger, Judith Pirkelbauer, Laura Rumpl, Otto Tremetzberger, Tomiris Dmitrievskikh, Wolgang Schmutz, FdR-Team
Impressionen
CV
Antoine Turillon und Seth Weiner lernten sich 2017 durch ihr gemeinsames Interesse an zeitgenössischer Kunst und dessen Vermittlung kennen, und kollaborieren seitdem in ortsbezogenen Projekten und pädagogischen Experimenten. Da sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, dass zeitgenössischen Kunst die Fähigkeit hat, Veränderungen herbeizuführen, suchen sie weiterhin nach Kontexten und Prozessen die sowohl Raum für Handlung als auch für Reflexion bieten.