Archiv - Festival der Regionen 1993

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FDR 1993

H. J.

Eine Anamnese unserer Gesellschaft; Ein „Tschisas“, der ständig in der Nase bohrt, nicht über Wasser spazieren kann und sich daher Schwimmflügerl wünscht, „G. Father“, der sowieso immer falsche Entscheidungen trifft, „Mary MG“, schwer lädiert vom letzten Partisaneneinsatz, das ist das himmlische Personal von H.J., der Farce von Thomas Baum. Aber H.J. ist durchaus ein irdisches Stück Theater: Weil da noch ein Bischof ist und isst, der nicht nur beim Essen seine Finger im Spiel hat. Ein Kapo und ein Vize, die ihre Spielchen treiben und in ganz erbärmlichen Situationen angetroffen werden, nebst einem „Präsident Ade“, der sich ausgesprochen hager und mager, aber von großer Dehnbarkeit präsentiert und sich an absolut gar nichts erinnern kann. Und da ist auch noch H.J. höchstselbst, ein Rattenfänger von Gottes und des Bischofs Gnaden, in Wirklichkeit eine zum Menschen mutierte Kröte. Eine ganze Menge gesellschaftlicher Statisterie, Wahlvolk, Speichellecker, Befehlsempfänger, Möchtegerneanschaffer wuselt um das gar nicht feine Personal herum, entwurzelt und desorientiert, dankbar für jeden starken Spruch und – so scheints – für jeden Fußtritt, wenn er nur ihnen persönlich zugedacht ist. Diese starken Sprüche, aber auch die Tritte, hat nur einer parat: H.J., der selbsternannte Heiland der neuen Zeit. Ihm parieren sie, ihm wichsen sie die Stiefel, sie geben die Tritte und Erniedrigungen skrupellos weiter. Acht Stationen des (un)aufhaltsamen Aufstiegs von H.J. zeigt Thomas Baums neuestes Stück. Acht Stationen vor dem alles entscheidenden Tag, dem Wahltag, der ab dann ein von niemand erwartetes Ergebnis bringt… Thomas Baums Stück H.J. ist eine Anamnese unseres gesellschaftlichen Systems, eines Systems, dessen Krankheitsverlauf schon sehr weit fortgeschritten ist. Dessen Heilungsversuche jedoch immer nur halbjerzig bleiben… H.J. ist ein Stück über das Versagen herkömmlicher Politikmuster und über Rattenfängerei populistischer Gruppierungen. H.J. ist auch eine sozialpsychologische Bestandsaufnahme: Wozu werden Menschen in einer Welt des Cashens und der Konkurrenz fähig, wenn sich politische Scharlatane ihrer annehmen? Sie gehen über Leichen. Es geht bei diesem Stück nicht um Namen und Parteien, es geht um Strukturen und Zusammenhänge, die es Personen und Gruppen ermöglichen, sich in Führerpositionen aufzuschwingen. Wenn jedoch jemand Ähnlichkeiten mit lebenden Personen entdeckt, so ist das zufällig. Aber Ähnlichkeiten und vergleichbare Zusammenhänge lassen sich doch nicht vermeiden. Regisseur Uwe Dörr hat auch außergewöhnliche theatralische Mittel gewählt, die die Konventionen herkömmlichen Theaters weit sprengen. Keinesfalls Theater mit Samthandschuhen, kein Theater, das politischem Proporzdenken das Wort redet. Dafür aber Theater, das spannend ist, das sich selbst exponiert, das aneckt. Theater, das irritiert. Eine ganz wichtige Rolle bei dieser Inszenierung spielt die Musik. „Sphärisch global“ heißt es in einer Regieanweisung von Thomas Baum. Für die Bühnenmusik zeichnet der Komponist Peter Androsch verantwortlich. Das Bühnenbild und die Kostüme dieses ungewöhnlichen Theaterabends gestalten Andi Mathes und Jürgen Gaulocher, die ebenfalls zu ungewöhnlichen Mitteln gegriffen haben. Wenn bei diesem Theaterabend nicht alles so endet, wie man das eigentlich erwartet hätte, dann sicherlich nicht, weil „G. Father“ wieder einmal eine falsche Entscheidung getroffen hat.