Solmaz Khorsand ist Journalistin und arbeitet derzeit beim Schweizer Magazin „Republik“. Davor war sie Redakteurin bei der Wiener Zeitung, der Zeit, der Standard.at und Datum. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderen 2018 mit dem Wiener Journalistinnenpreis ausgezeichnet. Die Begründung der Jury: „Solmaz Khorsand hat stets eine klare Haltung: an den Menschenrechten orientiert, feministisch und für Chancengleichheit – egal, ob zwischen Männern und Frauen oder zwischen Mehrheitsbevölkerung und Minderheiten.“
2021 ist ihr Buch „Pathos“ im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen.
Die ERÖFFNUNGSREDE zum nachlesen:
„Das Motto des diesjährigen Festivals ist Unter Tag/Underground.
Es ist ein schönes ambivalentes Thema, und das in einem Land, das mit Ambivalenz nicht viel anzufangen weiß. Hier sind Eindeutigkeiten gewünscht. Schöne Schubladen, eindeutig etikettiert. Weiß oder schwarz. Oben oder unten. Drinnen oder draußen. Von hier oder von dort. Alles Dazwischen überfordert.
Daher ist auch der Untergrund hierzulande eindeutig zu verorten. Er liegt im Bedrohlichen, im Klandestinen, im Unheimlichen, dort wo Dinge vor sich gehen, die wir nicht verstehen, die wir auf der Oberfläche nicht wollen, die auf der Oberfläche keinen Platz haben. Aus dem Untergrund wird geplant und geheckt. Im schlimmsten Fall gar gemordet, missbraucht und zerstört.
Daher ist es auch nur legitim dort Transparenz schaffen zu wollen. Dort genau hinzusehen, jeden Interpretationsspielraum genau zu vermessen, jeden Gedanken auf seine Verfassungstreue abzuklopfen, jedes Kleidungsstück auf seine Radikalität, jeden blauen Fleck auf seinen Hergang.
In diesem Untergrund gibt es keinen Zweifel. Es gilt keine Unschuldsvermutung. Er ist ein einziger Verdachtsfall in dem alles im Argen liegt, mit einem doppelten Boden, den es permanent auszuheben gilt. Mal analog, mal digital auf wunderbar ausgearbeiteten Landkarten mit Adressen für jedermann ersichtlich. Schließlich gilt es Vertrauen zu schaffen, ein Miteinander möglich zu machen, das nur dann möglich ist, wenn der eine vollkommen nackt und ausgeleuchtet vor dem anderen steht.
Spannend ist dieser Untergrund. Nicht umsonst wird er gerne hie und da besucht. Aufregend ist dieses Unbekannte, Rohe, Wahnsinnige und Hässliche. Ja es gibt eine regelrechte Sehnsucht danach, denn wo sonst wird man der eigenen Schönheit, des eigenen Anstands, des eigenen Edelmuts, der eigenen Menschlichkeit so gewahr als im Angesicht des vermeintlichen Gegenteils.
Ja, dieser Untergrund ist ein dankbarer Ort des wohligen Schauers und der Selbstbestätigung. Für die einen.
Für die anderen ist der Untergrund etwas ganz anderes. Er hat nichts Bedrohliches, nichts Unheimliches, nichts Exotisches, noch nicht einmal etwas Aufregendes. Er bedeutet vor allem eines: Normalität.
Es ist jener Ort, wo einigen von uns eine Atempause gegönnt wird, von all den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen, die ein Zentrum ausmachen, um das alle anderen kreisen müssen. In dem alle anderen höchstens am Rand toleriert werden, im Schatten, sichtbar nur auf Abruf als Sündenbock oder als Inspirationsquelle aus der sich gut Kapital schlagen lässt, sei es für die Geldbörse oder das eigene Gewissen.
In diesem Untergrund ist der Schatten an der Oberfläche und das Licht unter Tag. Dieser Untergrund bietet Schutz. Mehr noch. Er bietet Freiheit, Sicherheit, Familie.
It’s the place where you are celebrated not tolerated. Es ist jener Ort, wo keine Rücksicht genommen werden muss, auf die Befindlichkeit eines Zentrums, das sich immerzu bedroht fühlt, von allem und jeden, das es nicht kennt. Und all das Bedrohliche, das es kennt, all zu gern in seiner Mitte akzeptiert, wählt, gar feiert.
Doch in diesem Untergrund gelten andere Gesetze, ein anderer Bezugspunkt, einer, der es ermöglicht nicht nur zu überleben, sondern zu erleben, ganz ohne Beschwichtigungsgesten und Demutshaltung. Vielleicht auch mit ein bisschen Stolz, Humor und Eitelkeit. Ganz normal eben. Vielleicht erhalten Sie in den kommenden Tagen Zugang zu diesem Untergrund. Und wenn ja, genießen Sie dieses Privileg. Denn ein solches ist es.